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Titel
Das Ringen um das Selbst. Schizophrenie in Wissenschaft, Gesellschaft und Kultur nach 1945


Autor(en)
Schmitt, Sandra
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 118
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 476 S.
Preis
€ 69,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ursina Klauser, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

Die Geschichte eines psychiatrischen Krankheitsbilds zu schreiben, ist ein komplexes Unterfangen: Man hat es mit einem unsicheren, meist umstrittenen Gegenstand zu tun, der je nach Kontext sehr unterschiedlich gesehen und gedeutet wird, sich fortlaufend wandelt – und deshalb schwer zu fassen ist. Sandra Schmitt hat sich dieser Herausforderung mit ihrer Dissertation angenommen und beschäftigt sich mit einem der schillerndsten und wohl meistverhandelten psychiatrischen Krankheitsbilder: der Schizophrenie. Dass sie mit ihrer Studie nicht nur einen komplexen und vielschichtigen Gegenstand, sondern gleichzeitig auch ein weites Feld in den Blick nimmt, zeigt der Untertitel „Schizophrenie in Wissenschaft, Gesellschaft und Kultur nach 1945“ an. Er verweist darauf, dass Schizophrenie gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur unter PsychiaterInnen, sondern vermehrt auch in einer breiten Öffentlichkeit verhandelt wurde. Gleichzeitig weckt er hohe Erwartungen, indem er ein ebenso vielversprechendes wie anspruchsvolles – in dieser Breite letztlich aber auch schwer umsetzbares – Vorhaben umreißt.

Wie lässt sich ein solches Vorhaben angehen? Sandra Schmitt orientiert sich in ihrer Arbeit an wissensgeschichtlichen Begriffen und Konzepten und fragt danach, welche „Vorstellungen, Erklärungen und Deutungen […] zu welcher Zeit als Wissen von Schizophrenie anerkannt“ (S. 5) wurden, wie Schizophrenie begriffen und beschrieben und mit welchen Techniken und Praktiken ihr begegnet wurde. Zeitlich legt sie den Fokus auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, räumlich auf West- und Ostdeutschland, wobei sie diese Eingrenzungen im Verlauf der Studie wiederholt durchbricht und ausweitet. Als Quellengrundlage dienen Schmitt verschiedene Publikationen: Sie untersucht psychiatrische Fachzeitschriften, Lehrbücher, Monografien und Sammelbände, um den „psychiatrischen Diskurs“ über Schizophrenie zu erfassen. Diesen unterscheidet Schmitt von einem „öffentlichen Diskurs“, für dessen Analyse sie auf Wochen- und Tageszeitungen, Zeitschriften und literarische, dramatische und autobiographische Texte zurückgreift. Grundsätzlich, so schreibt Schmitt, sei sie davon ausgegangen, „dass für eine Geschichte der Schizophrenie in West- und Ostdeutschland all das relevant ist, was in diesem Publikationsraum erschien und rezipiert wurde“ (S. 25).

Wie sie das umfangreiche Material, das so potentiell in den Blick gelangt, eingeschränkt hat und nach welchen Kriterien die Auswahl und Auswertung der Publikationen erfolgte, wird leider nicht genauer erläutert. Soweit dies aus den knappen Anmerkungen hervorgeht, scheinen insgesamt weniger inhaltliche oder methodische als forschungspraktische Gründe – wie die digitale Verfügbarkeit oder die elektronische Durchsuchbarkeit – ausschlaggebend gewesen zu sein. Diese Leerstelle verweist auf einige generelle methodische Probleme, lässt doch gerade die Einleitung viele Fragen nach konkreten Vorgehensweisen und Zugriffen offen: So bezieht sich Schmitt zwar schon mit ihrer Fragestellung explizit auf wissensgeschichtliche Ansätze und formuliert den Anspruch, mit ihrer Arbeit „ein genaueres Verständnis des Wissens von Schizophrenie“ nach 1945 ermöglichen zu wollen, ohne aber wirklich zu klären, was sie unter dem Begriff „Wissen“ versteht und wie dieser als analytische Kategorie für ihre Untersuchung konkret fruchtbar gemacht werden soll. Weiter stellt sich die Frage, inwiefern die nationale Rahmung eines gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend länder- und sprachraumübergreifenden Diskurses sinnvoll ist (abgesehen von ebenfalls nicht explizit erwähnten forschungspraktischen Gründen). Offen bleibt auch, was die Autorin als „psychiatrischen Diskurs“ einerseits und als „öffentlichen Diskurs“ andererseits auffasst und wie sie diese – aus wissenshistorischer Sicht nicht unproblematische – Unterscheidung vornimmt und begründet. In methodischer Hinsicht fehlt es also mehrfach an Erläuterungen und Positionsbezügen der Autorin.

Das Buch ist in fünf Hauptkapitel gegliedert. Das erste Kapitel setzt vor dem eigentlichen Untersuchungszeitraum ein und holt weit aus, „um die Geschichte der Schizophrenie und der Psychiatrie sowie die Bedeutung der Schizophrenie als psychiatrische Leitkrankheit auch im 20. Jahrhundert und seiner zweiten Hälfte zu verstehen“ (S. 29). Es bietet eine Rundschau, die von psychiatriehistorischen Grundlagewerken wie Foucaults „Wahnsinn und Gesellschaft“1 bis zu neueren Einzelstudien reicht, die sich nicht im engeren Sinne mit Schizophrenie befassen. Inwiefern dieser allgemein gehaltene Literaturbericht für die Geschichte der Schizophrenie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts relevant ist, wird über weite Strecken leider zu wenig deutlich.

Um den eigentlichen Untersuchungsgegenstand, den Diskurs über Schizophrenie in der zweiten Jahrhunderthälfte, drehen sich die folgenden Kapitel. Entlang von einzelnen Publikationen werden zunächst die Fachdebatten in der westdeutschen (Kapitel II) sowie der ostdeutschen Psychiatrie (Kapitel III) umrissen, wobei das Kapitel zur westdeutschen Psychiatrie deutlich umfangreicher ausfällt. Schmitt formuliert hier die These, dass die „Lebensgeschichte“ ab den 1950er-Jahren in einer Art kritischen Wendung gegen ein psychopathologisch geprägtes Konzept von Schizophrenie an Bedeutung gewonnen habe beziehungsweise „wiederentdeckt“ (S. 80) worden sei. In diesem Zuge seien „die Lebensgeschichten der schizophrenen Patientinnen und Patienten außerhalb ihrer Erkrankung bzw. ihrer Klinikaufenthalte“ und „ihr Erleben und ihr Wahrnehmen“ sichtbar gemacht worden, was „im Zeichen der Wiederentdeckung psychologischer, psychoanalytischer und tiefenpsychologischer Anteile des Schizophreniekonzeptes“ geschehen sei (S. 80). Angelehnt an Ansätze, die von in den USA und der Schweiz praktizierenden PsychoanalytikerInnen und PsychiaterInnen entwickelt wurden, begannen nun auch PsychiaterInnen in der Bundesrepublik, nach neuen Erklärungsmodellen und Deutungen für Schizophrenie zu suchen und andere erkenntnistheoretische und therapeutische Zugänge zu erproben. Davon zeugen etwa Fallgeschichten, die von der psychotherapeutischen und psychoanalytischen Behandlung schizophrener PatientInnen berichteten und deren Erkrankung sie in neue Sinnzusammenhänge einbetteten. Auf diese Weise sei es möglich geworden, „Schizophrenie als Selbstwerdungsgeschichte“ zu erzählen und „nicht in erster Linie als biologischen Krankheitsprozess, sondern als innere Konflikt- und Entwicklungsgeschichte zu begreifen“, worin Schmitt „eine der zentralen Wandlungen“ ausmacht, „die das Konzept [der Schizophrenie] in der Mitte des 20. Jahrhunderts erfuhr“ (S. 6). Dass für diese neuen Zugänge zur Schizophrenie neben psychotherapeutischen Ansätzen auch die in den 1950er-Jahren aufkommenden neuen Psychopharmaka eine wichtige Rolle spielten, wird von Schmitt am Rande erwähnt, aber nicht ausführlicher thematisiert.

In die ostdeutsche Psychiatrie fanden solche Ansätze bis auf Weiteres keinen Eingang. Erst in den 1970er- und 1980er-Jahren, so Schmitt, habe diese die Entdeckung der Lebensgeschichte und des Subjekts „nachgeholt“ (S. 6), als eine Öffnung gegenüber psychoanalytischen und psychotherapeutischen Verfahren einsetzte. Bis dahin seien die ostdeutsche Psychiatrie und deren Auseinandersetzung mit Schizophrenie von der Pawlow’schen Theorie der höheren Nerventätigkeit geprägt gewesen, welche als gemeinsames, politisch vorgegebenes Paradigma den psychiatrischen Diskurs bestimmte.

Die beiden folgenden Kapitel bewegen sich dann weg von fachlichen Debatten und dem psychiatrisch-wissenschaftlichen Diskurs im engeren Sinne und widmen sich dem, was Schmitt als „öffentlichen Diskurs“ (S. 26) bezeichnet. Sie beruhen auf der Analyse von Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln sowie Einzelpublikationen von PsychiaterInnen, PsychiatriekritikerInnen und PatientInnen. In Kapitel IV, das eher unspezifisch mit „Wissen und Kontexte von Schizophrenie“ übertitelt ist, stehen Positionen im Vordergrund, die sich allgemein mit der Psychiatrie, aber insbesondere auch mit vorherrschenden psychiatrischen Konzepten von Schizophrenie kritisch auseinandersetzten. Schmitt argumentiert, dass die Psychiatriekritik der 1960er- und 1970er-Jahre an die in Kapitel II beschriebenen neueren Ansätze anschloss: Diese hätten die „kritische Auseinandersetzung mit der Psychiatrie und dem Schizophreniekonzept […] nicht aufhalten“ (S. 426) können, sondern vielmehr die Grundlage gebildet, auf der diese Kritik aufbauen konnte. Mit der Psychiatriekritik wiederum hätten sich viele dieser Ansätze sodann als „Gegenentwurf zur traditionellen, psychopathologischen Schizophrenielehre“ (S. 427) verbreitet. Im fünften und letzten Kapitel, das unter dem Titel „Rettungsversuche und Selbstwerdungen“ steht, liegt der Fokus schließlich auf literarischen Texten mit dokumentarischem oder autobiographischem Charakter, in denen subjektive Erfahrungen zur Sprache kommen.

Es ist ein breiter Fächer an Themen und Diskussionen, den Sandra Schmitt in ihrem Buch aufmacht. Zwar gelingt es ihr, einige wichtige Muster im Sprechen über Schizophrenie sichtbar zu machen und einzelne Verbindungslinien zwischen verschiedenen Formen und Gefäßen dieses Sprechens zu skizzieren. Gerade diese Muster, die großen Entwicklungs- und Verbindungslinien geraten in der oft kleinteilig gehaltenen Auseinandersetzung mit den untersuchten Publikationen allerdings immer wieder aus dem Blick. Die Arbeit bleibt häufig zu nahe am Quellenmaterial; es fehlt die Stimme der Autorin, die das Material nicht nur präsentiert, sondern auch gewichtet, einordnet und mit analytischer Distanz zentrale Aussagen und Bezüge herausarbeitet, Überblick schafft und rote Fäden sichtbar macht. So erschließt sich der Leserin mitunter nicht oder erst spät, worin die Bedeutung einzelner eingehend referierter Positionen und Texte liegt und welche Vorstellung, Erklärung oder Deutung von Schizophrenie in ihnen greifbar wird. Dies gilt etwa für Schlüsseltexte wie die in den 1950er-Jahren publizierten Fallgeschichten von Psychiatern wie Benedetti oder Müller, deren (längerfristige) Bedeutung für den fachlichen Diskurs wie auch für das individuelle und gesellschaftliche Sprechen über Schizophrenie schon im zweiten Kapitel viel deutlicher hätte herausgearbeitet werden können. Mit Blick auf die Arbeit als Ganze entsteht so ein gewisses Missverhältnis von großer Rahmung und kleinteiliger Umsetzung.

Insgesamt bleibt der Eindruck, dass die Studie durch eine stärker problemorientierte, analytisch geleitete Herangehensweise und Strukturierung des umfangreichen Stoffes gewonnen hätte. So hätte etwa die These, dass die Lebensgeschichte im Sprechen über Schizophrenie sowohl im inner- wie außerfachlichen Diskurs wichtiger geworden sei, stärker gemacht werden und als roter Faden über einzelne Kapitel hinweg dienen können. Die Vielstimmigkeit und Verflochtenheit des Diskurses über Schizophrenie nach 1945, die Schmitt wiederholt betont, wäre damit nicht verdeckt worden, sondern womöglich besser zur Geltung gekommen.

Anmerkung:
1 Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt am Main 1969.